Osterpredigt 2021
Vor zwei Wochen wurde er gekürt, wie in jedem Jahr, der Vogel des Jahres. Seit 1971 verleihen zwei Naturschutzorganisationen diesen Titel. Der Vogel des Jahres 2021 ist …. das Rotkelchen. Wenn Sie mal ein Rotkehlchen sehen wollen, gehen Sie in Ihren Garten und fangen Sie an, umzugraben (aber sprechen Sie das bitte vorher mit den Menschen ab, mit denen Sie sich Ihren Garten teilen). Schon kurz nach dem Umgraben wird sich ein Rotkelchen einfinden und von einem nahen Zaun oder Ast aus Ihr Werk beobachten, in der Hoffnung auf Leckerbissen, die durch Ihre Arbeit zutage gefördert wurden. Das Rotkelchen ist ein Singvogel. Fast alle Vogelarten beginnen bereits vor Sonnenaufgang zu singen, die ersten sehr früh in der Dunkelheit. Mit fortschreitendem Frühjahr wie in diesen Wochen verlagert sich aber der morgendliche Gesangsbeginn in immer frühere Morgenstunden.
„Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde. Die Erde war wüst und wirr und Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser“. Das sind die ersten Worte der Bibel. „Gottes Geist schwebte über dem Wasser“. So beginnt die Schöpfungsgeschichte. Das Wort „Schweben“ heißt aus dem Hebräischen übersetzt eigentlich „Brüten“. Gottes Geist brütet also wie ein Vogel das tut. Am Anfang der Welt war es dunkel, aber nicht einsam, denn Gottes Geist ist da und der brütet etwas aus. Und dann spricht Gott diese drei Worte: „Es werde Licht.“ Und dann wird’s hell. Kein aggressives, blendendes Neonlicht. Gutes, warmes Licht geht an, sagt der Glaube. Gott sah, dass das Licht gut war. Damit beginnt alles. So ist das im Anfang.
Unser Osterevangelium berichtet vom frühen Morgen. Die Frauen kommen zum Grab. Sie haben die grausamen Bilder von Karfreitag im Kopf: Bilder von Verhaftung und Verhör, Folter und Kreuzigung, und den Anblick, als ihr Jesus seine Seele aushauchte und starb. Bilder vom Ende haben sie bei sich, die man nicht in zwei Nächten vergisst. Und „wohlriechende Öle“ haben sie dabei, um den Toten reisefertig zu machen für die Heimkehr.
Was passiert auf dieser Reise? Wie geht das weiter, wenn Menschen gestorben sind? Was erleben die Verstorbenen in der Auferweckung von den Toten? Die Passionsgeschichte der Bibel hilft uns in dieser Frage nicht weiter. Sie bleibt bei den Überlebenden. Sie verfolgt, was die Hinterbliebenen tun: Kreuzabnahme; Grabstellensuche; Friedhofsverrichtungen, alles praktisch sichtbare Abläufe von Menschenhand. Die entscheidende Frage aber ist: Was tut Gott jetzt? Dem Sterben Jesu hat er beigewohnt. Den letzten Worten Jesu hat er zugehört. Seinen letzten Atem hat er empfangen, als er verstarb. Und dann? Was passiert nach dem letzten Atemzug?
Psalm 121 sagt: Wenn der Ausgang durchschritten ist, wird Gott machen, dass aus dem Ausgang ein Eingang wird, und aus dem Ende ein Anfang: „Der Herr behüte deinen Ausgang und deinen Eingang“. Erst Ausgang, dann Eingang. Zuerst Ende, dann Anfang. In dieser Reihenfolge. Zugegeben, so etwas zu beten ist eine Sache. Sich so etwas auszumalen, schon eine andere.
Wie ist das im Eingang zur kommenden Welt? Dann, sagt der biblische Glaube, dann macht Gott Licht in uns. Lebenslicht geht an. Gott weckt das Bewusstsein, sobald er unseren Namen nennt. Und in diesem Moment werden Dinge klar, die vorher völlig nebulös und unvorstellbar waren. Und plötzlich wird klar: Der Anfang ist kein Ort und kein Zeitpunkt. Der Anfang ist Gott in Person. Der Anfang ist jemand, der uns anspricht und mit uns spricht. Am Ende wartet der, der den Anfang macht. Das Leben endet in der Geborgenheit des Ursprungs. Keine Gräber, keine Toten, keine Fassungslosigkeiten mehr.
Auferstehung geschieht da, wo wir aus ganzem Herzen glauben. Wo Gottes Erdbeben unsere alten, traurigen und negativen Gewissheiten erschüttern kann. Wo wir durch die Ruinen dieser bedrückenden Überzeugungen hindurch etwas Neues zu sehen wagen.
Wie nötig ist das in diesen Zeiten in unserer Kirche. Wir müssen uns öffnen. So geht es nicht mehr weiter. Ich wünsche mir eine ehrliche Kirche, die sich zu ihrer Schuld bekennt und endlich aufrichtig daran arbeitet und aufarbeitet. Es ist nicht damit getan, wenn einzelne Bischöfe zurücktreten. Wir brauchen einen neuen Umgang miteinander. Wir brauchen Strukturen, die den Menschen in den Vordergrund stellen und keine Machtinteressen. Wir brauchen eine Kirche, die allen Menschen und Lebensformen wertschätzend begegnet. Wir brauchen eine Kirche, in der nicht das Geschlecht entscheidet, was Menschen tun oder lassen dürfen. Und wenn das in den Zentren der Macht immer noch nicht verstanden wird, dann ist es gut, wenn Christinnen und Christen protestieren und auf die Straße gehen.
Ostern 2021 bedeutet für mich: Das Leben neu zu sehen beginnen in meinem Leben, in Gesellschaft und Kirche, auch oder gerade in der Pandemie. Es gab ein Leben vor Corona. Es gibt ein Leben mit Corona. Und es wird ein Leben nach Corona geben. So sehr wir auch müde und verzweifelt sind, so groß unsere Sorgen auch sein mögen. Wir werden leben, sogar über den Tod hinaus.
Dieser Glaube schenkt mir Vertrauen und Zuversicht, daran halte ich mich fest. Das wünsche ich uns allen. Schöner sagt es der Heilige Giovanni Don Bosco: „Halte dich an Gott. Mache es wie der Vogel, der nicht aufhört zu singen, auch wenn der Ast bricht. Denn er weiß, dass er Flügel hat“.
Halleluja.
Matthias Ziemens, Propst