Pfingstpredigt 2022

Pfingstpredigt 2022

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Als der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren alle zusammen am selben Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Und alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab. In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt;denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden. Sie waren fassungslos vor Staunen und sagten: Seht! Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden? Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören: Parther, Meder und Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kappadokien, von Pontus und der Provinz Asien, von Phrygien und Pamphylien, von Ägypten und dem Gebiet Libyens nach Kyrene hin, auch die Römer, die sich hier aufhalten,nJuden und Proselyten, Kreter und Araber - wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden.
Apostelgeschichte 2, 1-11

Wenn ich unterwegs bin und mir fremde Städte anschaue, dann ist das erste Gebäude, das ich besuche meistens eine Kirche. Manches Mal bin ich wieder an diese Orte zurückgekehrt, wenn mir eine Kirche gut gefallen hat. Sei es das Münster in Freiburg, wo ich studiert habe, oder in Dresden die großartige Frauenkirche oder der imposante Wiener Stephansdom. Es war dort vor etwa 20 Jahren, am frühen Abend eines schönen Frühlingstages. Im vorderen Teil der Kathedrale feierte eine kleine Gruppe eine Heilige Messe. Einige Personen, die offensichtlich nicht zur engeren Gottesdienstgemeinde gehörten, saßen etwas abseits davon im Kirchenschiff und nahmen auch am Gottesdienst teil. Immer wieder kamen Menschen hinzu oder gingen wieder weg. Ein schmiedeeisernes Gitter grenzte den Gottesdienstraum vom Besichtigungsverkehr ab. Die Tür im Gitter stand offen, es gab keine Zugangskontrollen. Die gezogene Grenze war eine Hilfestellung dafür, dass Menschen an diesem Ort gemeinsam und doch mit unterschiedlichen Bedürfnissen da sein konnten. Man merkte, es war gerade Stoßzeit im abendlichen Innenstadtverkehr. Menschen kamen aus ihren Büros oder waren nach einem langen Besichtigungstag müde. Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft tauchten hier auf. Die einen sitzend, die anderen kniend. Die einen für einen längere Zeit, die anderen nur für einige Minuten. Die einen betend, die anderen offensichtlich ausruhend. Die einen mit Aktenkoffern, die anderen mit Einkaufstüten oder Rucksäcken. Und trotzdem herrschte vor den Altären eine wohltuende, ruhige und besinnliche Stimmung. Neben einem der Altäre stand ein auffällig großer Opferkerzenständer, übervoll mit brennenden Kerzen. Der Dom ist ein Ort, zu dem Menschen kommen, an dem Menschen Ruhe suchen und von dem Menschen wieder gehen können. Völlig unterschiedlliche Frauen und Männer mit unterschiedlichen Bedürfnissen finden hier ihren Platz. Die fromme Gottesdienstgemeinde, die neugierigen Touristen und die Kerzenanzünder mit ihren Sorgen und Gebeten. Und ich bin mir sicher: Hier traten viele in den Kirchenraum hinein, die keine Christen oder Christinnen waren, und manche die längst aus der Kirche ausgetreten sind.

Pfingsten feiern wir den Geburtstag der Kirche. Vor knapp 2000 Jahren hat Jesus Christus den Grundstein für seine Kirche gelegt. Einen ganz besonderen Bau wollte er schaffen, einen Raum, in dem sein Geist lebendig ist, wo Menschen spüren, was er durch sein ganzes Leben vermitteln wollte: die Nähe Gottes, eine Atmosphäre, in der jede und jeder mit ihren und seinen Bedürfnissen willkommen ist. Und hier soll die Sprache gesprochen werden, die alle verstehen: die Sprache des Herzens und der Liebe. Alte Pfingstdarstellungen zeigen oft ein Haus mit offenen Türen und Menschen mit offenen Herzen. Pfingsten ist das Fest der geöffneten Türen und Fenster, durch die sein Geist hineinweht. Das wird mir in jedem Jahr beim Hören des Pfingstberichtes der Apostelgeschichte bewusst, auch wenn mir die Lektorinnen und Lektoren, die diesen Text vortragen, ein wenig leid tun. Wir hören von Medern, Parthern und Elamitern, Bewohnern von Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, von Phrygien und Pamphylien, um nur einige dieser Zungenbrecher zu nennen. Menschen aus der damals bekannten Welt standen stellvertretend für alle Völker der Erde. Gottes Geist kam fünfzig Tage nach Ostern über sie. Die Kirche sollte von Anfang an weltumspannend sein. Sie sollte bis an die Grenzen der Welt reichen und niemanden ausgrenzen. Das wird mir in diesen Wochen in unseren Gemeinden besonders bewusst: In Verden, Achim und Oyten haben wir unsere Gemeindehäuser wieder für geflüchtete Menschen geöffnet. Viele von ihnen kommen aus der Ukraine. Und auch an diesem Pfingstfest sammeln wir Geld für Renovabis, der Solidaritätsaktion zur Unterstützung von notleidenden Menschen in Mittel-, Ost- und Südeuropa, in diesem Jahr selbstverständlich in besonderer Weise für die Menschen in der Ukraine. Unsere Kirchengemeinden bieten den Menschen Raum mit all den Hoffnungen, Ängsten und Fragen, die ihr Leben ausmachen. Mit ihrem Bedarf an Gemeinschaft – so lange und so kurz, wie es für sie gut ist. Mit der Diskretion, in der sie ihren Glauben ohne Zwang leben können. Mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen an Nähe und Distanz. Mit dem Recht sich auszuruhen und sich nicht durch Leistung rechtfertigen zu müssen. Mit der Freude daran, das Schöne zu genießen. Mit dem Wunsch, willkommen zu sein, egal wer ich bin, wo und wie ich lebe und liebe. In einer Gemeinde, die sich auf Gottes Geist beruft, kommt jedem Menschen der Raum zu, den er, den sie für sein, für ihr Leben braucht.

Pfingsten ist die Geburtstsstunde der Kirche. Und Kirche sind zuerst Menschen. Die Bibel spricht von einem Bau, der aus lauter lebendigen Steinen, Menschen, besteht. Der Bau dieses lebendigen Gebäudes hat mit der Ausgießung dese Heiligen Geistes am Pfingsttag begonnen. Der Eckstein, der Grundstein, das Fundament ist Jesus Christus. Die voraussichtliche Fertigstellung ist die Wiederkunft Jesu Christi. Das bedeutet: Kirche ist immer Baustelle, nie fix und fertig, immer im Werden, sie muss sich weiter entwickeln, im Geiste Jesu. Unsere Aufgabe ist es, an diesem Bau weiterzubauen, im Wissen, dass wir das Haus nicht fertigstellen werden. Wir sind ein kleiner Stein in einem großen Ganzen, haben Verantwortung für alle, die nach uns kommen. Paulus sagt: „Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt.“ (1 Kor 12,7). Das heißt doch, dass wir als Christinnen und Christen aufeinander angewiesen sind. Wir sind eine Gemeinschaft, in der wir einander schenken und beschenkt werden, eine Gemeinschaft, wo wir unsere Gaben zum Wohle aller teilen. Wenn das gelingt, hat das eine Außenwirkung. Wir Christinnen und Christen werden wahrgenommen, wenn wir authentische Zeugnisse unseres Glaubens abgeben in Wort und Tat. Kirche, das sind wir. Und hier gibt es schon viel Gutes. Ja, trotz allem, was uns in der Kirche belastet, was uns erschreckt und mitunter verzweifeln lässt. Das ändert aber nichts daran, dass diese frohe und wunderbare Botschaft Jesu Christi es wert ist, geglaubt und gelebt zu werden. Und wenn das mit Freude und Begeisterung geschieht, dann ist das Pfingstfest ein wunderbarer Anlass, Gott dafür zu danken, dass er immer wieder seinen guten Geist aussendet und wir seine geliebten und geisterfüllten Kinder sind.

Matthias Ziemens, Propst