Weihnachtspredigt 2022
Igor Politschuk ist Bürgermeister von Luzk. Luzk ist eine Stadt in der Westukraine. Regelmäßig nimmt er an Trauerfeiern für Soldaten in der orthodoxen Kathedrale teil. Soldaten, die im Krieg gefallen sind, wird hier die letzte Ehre erwiesen. Vor einigen Wochen entbrannte in Luzk eine heftige Diskussion. Sollen jetzt, wo Weihnachten vor der Tür steht, nebenan auf einem zentralen Platz der Stadt Weihnachtsbäume aufgestellt werden und im Lichterglanz erstrahlen, trotz des Krieges? Und wie soll man unter solchen Bedingungen von den toten Soldaten Abschied nehmen? Denn in Luzk führt der Weg der Särge an den Weihnachtsbäumen vorbei. Viele Menschen sind sich einig: Fernab der Front müsse es kleine Momente menschlicher Freude geben dürfen, auch wenn Soldaten kämpfen und sterben. „Ein Weihnachtsbaum kostet keine astronomische Summe, mit der man einen Panzer oder ein Flugzeug kaufen kann“, sagt ein freiwilliger Helfer. „Aber einen Baum zu haben zeigt, dass uns russische Raketen und Propagandageschrei gleichgültig sind. Trotzdem leben, genießen und feiern wir.“
Was uns im sicheren Teil Europas an diesem Weihnachtsfest mit den Menschen in der Ukraine verbindet, ist die Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit. Diese Sehnsucht kleidet der Prophet Jesaja in die Worte: „Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht“. Er schreibt seine Worte in einer Zeit, die für das Volk Israel alles andere als erfreulich war. Man musste mit dem Schlimmsten rechnen, nämlich vom Großreich Assyrien zerstört zu werden. Jesaja aber stimmt geradezu einen Lobgesang an. Er redet von einem neuen Herrscher, der mit Weisheit und Frieden regieren wird. Er redet davon, dass der Krieg endlich ein Ende hat. Recht und Gerechtigkeit sollen regieren, für immer und ewig.
Mehrere hundert Jahre nach Jesaja kommt ein Kind zur Welt, das man Jesus nennt. Es wird unter ärmlichen Umständen in einem Stall geboren. Was dieser Jesus später redet und tut, ist ganz und gar ungewöhnlich. Nun erinnert man sich wieder an die Worte der alten Propheten. Endlich hat Gott sein Versprechen eingelöst, einen neuen Herrscher in die Welt zu senden. Und nun liest man die Prophetenworte wie eine Weissagung: Das große Licht war der Stern von Bethlehem, das den Menschen den Weg des Friedens weist. Mit ihm kommt ein großes Licht in die Welt, das alle Dunkelheit besiegen kann.
Es ist wohltuend, diese Botschaft in dieser besonderen Nacht wieder zu hören. In einer Nacht, in der wir alle die Stimme unseres Herzens hören, wo wir der Sehnsucht Raum geben, die in uns ist. Nicht umsonst wird die Weihnachtsbotschaft nachts verkündet. In der Nacht, wenn die Geschäftigkeit Pause hat und die Hirten, die bei ihrer Herde wachen, mit geschärften Sinnen hinaus lauschen in die Nacht. Und nicht im Tempel wird sie verkündet, nicht in der Stadt, nicht im Königpalast, in der Zentrale der Macht, sondern unter freiem Himmel, auf dem Feld. Nicht den Mächtigen und Bedeutenden zuerst, sondern den Armen und Unbedeutenden. „Euch ist heute der Heiland geboren!“ Nicht im Palast, sondern im Stall ist er geboren, und die Ersten, die ihn sehen, sind einfache Leute. Nur so, meinte Lukas, passt es zum Leben Jesu, und so erzählt er von der Nacht, die für die Hirten beginnt wie jede andere. Bis zu dem Augenblick, als sie Ungewohntes hören und sehen und staunen.
„Die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott.“ Sie gehen danach zurück in ihren Alltag und finden ihn doch verändert. Weil diese Nacht, die war wie keine andere, sie verändert hat. Mit einem neuen Gefühl für die eigene Würde gehen sie wieder an die Arbeit, durchdrungen von dem Wissen, wie eng beides zusammengehört, das Beten und das alltägliche Tun. Sie haben erfahren: Gott ist nicht fern. Er ist ganz nah. Weder in der Weite des Himmels noch in der Enge eines Hauses, sondern da, wo Menschen leben und ihr Leben teilen, ihre Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit. Er geht ihre Wege mit. Jesus hat es gezeigt mit seinem Leben. Viele Wege ist er mitgegangen. Viel Leben hat er geteilt mit den Menschen, denen er begegnete. Er hat sie aufgerichtet, ihnen Augen und Herzen geöffnet für die Schönheit und den Wert und die Würde ihres Lebens, allen Lebens. Die sich öffnen für diese Botschaft, können sie überall hören und erfahren.
Denn Gott wohnt, wo man ihn einlässt. Das Kind in der Krippe will in unseren Herzen wohnen und sein Haus bauen, oder besser: sein Zelt aufschlagen und uns mitnehmen auf seinen Weg. Damit sich an der einen oder anderen Stelle die Träume und Sehnsüchte nach Frieden und Gerechtigkeit erfüllen und wahr werden - als Zeichen und Vorschein, dass es eines Tages für alle Welt wahr wird: Frieden auf Erden den Menschen, die Gott liebt.
Wir stehen am Ende eines Jahres, dass so sehr von Krieg, Gewalt und Krankheit geprägt ist. Was können wir zu Weihnachten zum Frieden auf Erden beitragen? Ich denke, wir können uns vom Licht der Weihnacht anstrahlen, uns im Innersten vom Frieden anrühren lassen, die Schatten unserer Welt nicht leugnen, aber auch nicht aufgeben, sondern vom Licht Zeugnis geben. Die Weihnachtsbotschaft ist die hoffnungsvolle Gegenbotschaft zu jeder Form von Egoismus, Krieg und Gewalt. Wer diese Botschaft verstanden hat und lebt, der läuft keinen dumpfen und schlichten Botschaften hinterher, die von Ausgrenzung und Intoleranz geprägt sind. Der bewahrt sich ein Gespür für die Nöte derer, die erwartungsvoll an unsere Türen klopfen und um Aufnahme bitten. Den lässt es nicht kalt, wenn die Armen dieser Welt sich auf den Weg in ein besseres Leben zu uns machen und ihr Leben dabei aufs Spiel setzen. Der hat keine Angst vor dem Fremden und Andersgläubigen, denn er erkennt in jedem Menschen die Schwester, den Bruder.
Ich wünsche Ihnen gesegnete Weihnachten!
Matthias Ziemens, Propst